Er oder Ich by Nadolny Sten

Er oder Ich by Nadolny Sten

Autor:Nadolny, Sten [Nadolny, Sten]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492957915
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00


Viertes Kapitel

Durch die Wüste

Seit drei Tagen schreibe ich Fragen auf, Zufallsfragen, sonst nichts. Sind Wildwechsel eine Gefahr für die Bahn, oder die Bahn für die Rehe, und wenn nein, warum nicht? Warum verabscheuen wir die Dummheit? Was verdoppelt sich beim »Dopplereffekt«? Dazu legasthenische Fundstücke wie »Durchlaucht« statt »Druckluft«.

Ein Pornofilm in Hamburg nahm mir den Rest meines Glaubens an den menschlichen Dialog. Enteilte gramgebeugt wie stets. Wieso gehe ich immer noch hin? Schlechtes Gedächtnis.

Einzelne Städte könnte ich nennen, die Namen der Hotels nicht mehr. Schlief tagsüber, auch im Zug, versuchte es jedenfalls. Habe vor, mich wieder auf die Nacht umzustellen – vielleicht sind die Raubtiere inzwischen ruhiger. War zu müde oder litt zu große Schmerzen, um mein altes Eisenbahn-Roulette zu genießen (»Der nächste Zug ist meiner!«). Wollte meistens nicht dorthin, wo der Zug hinfuhr, nicht einmal in die Richtung. Stand halbe Stunden lang unschlüssig vor Fahrplänen.

Hemden und Unterwäsche wusch ich in –? Weg!

Restaurants. Es gibt keine Oberkellner mehr, nur levantinische Arbeiterdenkmäler, die dir mit großer Selbstverständlichkeit eine brennende Kerze unter die Nase stellen, damit du die Zeitung besser anzünden kannst. Danach wandern sie zwischen den Tischen auf und ab und zählen dir die Bissen in den Mund – außer bei Fußballübertragungen, dann mußt du hingehen und sie schütteln. Alternative: das Lokal über Handy anrufen. Sonderwünsche verstehen sie nicht, entsorgen aber sehr aufmerksam deine erst halb gerauchte Dreißig-Mark-Zigarre. Auf Proteste hin grinsen sie von einem Ohr zum anderen und halten dich für einen witzigen Burschen.

Kann dem Essen nichts mehr abgewinnen. Unglaublich, was ich in mich hineingeschaufelt habe, solange ich mich nicht davor ekelte. Da ich unterwegs bin, um in einen anderen Zustand zu geraten (was sonst?), läge ein Hungerdelirium nahe. Man soll davon euphorisch werden. Bisher sieht es nach verfrühter Altersschwäche aus.

1976 konnte ich aus Fernzügen noch Land und Leute beobachten. Ein heutiger ICE ist dafür zu schnell und allenfalls geeignet, das Gedächtnis für Zurückliegendes zu trainieren. Zwischen Hamburg und Kassel versuchte ich mir mit Merktricks aus dem Buch die Nummern meiner Bankkonten, die Geheimzahlen der Kofferschlösser, PIN-Codes für elektronische Geräte, Internet-Zugänge und fürs Autoradio einzuprägen – siebzehn Zahlen. Seit ich im Kasseler Hauptbahnhof das Kärtchen weggeworfen habe, auf dem seit Jahren alles wunderbar verzeichnet steht, kriege ich nur noch die Hälfte zusammen. Ich muß wieder hin, vielleicht leert man die Papierkörbe nicht jeden Tag. (Nachtrag: Tut man doch.)

Ein wonnestrahlender Motorbootkapitän will über Mädchen reden. Er lade Badenixen gern dazu ein, sich an der Achterleine festzuhalten und durchs Wasser ziehen zu lassen. »Erst finden die das toll. Aber bei zwei Knoten fängt der BH an zu rutschen, bei vier ist auch das Höschen weg.« Er lacht schallend, kann sich kaum beruhigen.

»Na so was! Und dann?« frage ich.

»Rausfischen, einen Bademantel reichen, aber ganz langsam! Erst mal nach ihm suchen.«

»Ach Gottchen!« murmle ich und sehe aus dem Fenster. Wir hassen nicht die Dummheit, nur den störenden Unterschied zwischen unserer eigenen und der der anderen.

Wo sind wir? Hinter Würzburg an der bayerisch-hessischen Grenze, die nächste Station ist Fulda. Hier fuhr ich mal nachts durch. Ich rätsele, warum es mir einfällt.



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